Food Trends zeigen Lebensgefühle und Sehnsüchte. Doch was ist in Sachen Gastronomie und Lebensmittelhandel momentan so in? Und wie steht es um die Nachhaltigkeit der ganzen Innovationen eigentlich? Sind wir auf einem Weg, der uns Lebensmittel wieder mehr wertschätzen lässt? Eine Bestandaufnahme in Form einer Food Trend-Expedition durch Berlin.
Food Trends zeigen Lebensgefühle und Sehnsüchte. Sie bieten Orientierung und Lösungsversuche für aktuelle Problemstellungen, und das sogar branchenübergreifend. Beim Zukunftsinstitut sprechen wir deshalb auch zurecht von Food Trends als „Seismographen“ des gesellschaftlichen Wandels, da sie neue Bedürfnisse aufzeigen, die sich aus weitaus tiefer liegenden Entwicklungen speisen – den sogenannten Megatrends. Das sind tiefgreifende, globale und langfristige Veränderungen, die am Ende auf alles und jeden Bereich Einfluss haben. Doch in Sachen Food sieht man das immer häufiger schon ganz zu Beginn.
Ich habe mich deshalb mit einem Freund nach Berlin aufgemacht, um zwei Tage in Deutschlands „Food-Mekka“ nach den neuesten Food- und Gastro-Konzepten zu suchen. So viel kann man vorwegnehmen: Das dicke B enttäuscht nicht, wenn man Neues und Innovatives ausprobieren möchte. Im Gegenteil: Man bräuchte definitiv mehr als zwei Tage und vielleicht auch zwei Mägen, um hier einen kompletten Über- und Einblick bekommen zu können.
Tag 1
Ankunft um 17 Uhr am Berliner Hauptbahnhof. Schnell in die M10 Richtung Warschauer, um nur kurz im Prenzlauer Berg im Hotel einzuchecken und das Reisegepäck abzuladen. Nicht mal eine halbe Stunde später stehen wir vor großen, vertikal übereinander angeordneten und aufgrund fortgeschrittener Dunkelheit hell leuchten Lettern: M-A-R-T-H-A-L-L-E. Ja, das „K“ hat leider seinen Geist aufgegeben, aber man weiß trotzdem sofort, wo man sich befindet – vor der Markthalle Neun in Kreuzberg. Und das natürlich auch nicht zufällig an unserem ersten Abend, denn heute heißt es hier „Streetfood Thursday“! Die Betreiber beschreiben den Anlass selbst wie folgt:
„Einen Ort lernt man am besten über das Essen kennen – ein Prinzip, das rund um den Globus gilt. Auf Reisen sind dabei immer die Essensangebote besonders interessant, die zum Direktverzehr auf der Straße angeboten werden: Streetfood. Und dass auch Berlin mehr zu bieten hat als Currywurst und Döner, zeigen wir jeden Donnerstag Abend bei uns in der Markthalle Neun. Von 17 – 22 Uhr wird sie zur Plattform für all jene, die sich ohne eigenes Restaurant und großes Startkapital aber mit umso mehr Kreativität ihrer Leidenschaft widmen: dem Kochen! Der Reiz der Sache liegt natürlich darin, für wenig Geld viele Kleinigkeiten aus den verschiedensten Ecken der Welt zu probieren.“
Das Konzept ist so simpel wie genial – und logischerweise mega-vielfältig. For Starters trinken wir ein, zwei Craft Beer, um erstmal anzukommen und die Stimmung in der bereits proppevollen Markthalle aufzunehmen. Es ist angenehmen geschäftig, riecht phantastisch und überall fröhliche Gesichter mit unterschiedlichstem Streetfood und diversen Drinks in den Händen. Wir probieren zuerst vegane Maniok-Wraps mit Salat und Bohnen-Füllung und sind überrascht, dass es für den Teig nichts weiter braucht außer Maniok-Mehl – einfach in die Pfanne hauen, plattdrücken und ausbacken, fertig.
Es folgen Takoyaki, zur Hälfte vegatarisch mit Tofu, die andere Hälfte „original“ mit Oktopusarm-Stückchen. Die pflaumengroßen Teigkugeln aus Japan machen allein schon aufgrund der Zubereitung Spaß. Es braucht ein spezielles Brateisen und trainiertes Skill-Set, um die Bällchen durch entsprechendes Wenden auch wirklich rund zu bekommen. Der Geschmack? Ganz lecker, aber man muss auch auf Ketchup & Mayo stehen, denn das wird hier am Ende zu Genüge draufgehauen.
Zum Abschluss gibt es noch Mochi-Eis, die „eiskalte“ Neuheit unter den Food Trends. In ganz unterschiedlichen Farben und Geschmacksrichtungen präsentieren sich uns die typischen japanischen Reiskuchen-Bällchen, die hier selbst im gefrorenen Zustand ihre weiche Konsistenz behalten. Und hey, glutenfrei sind die Teile auch, da sie auf Kokosnussmilch basieren.
Wir verlassen die Markthalle Neun mit einem wohligen Gefühl und freuen uns auf den nächsten Stop. Um halb 9 wartet ein Tisch im Cafe Botanico auf uns – einem konsequent durchdachten Gastro-Gardening-Restaurant. Dahinter verbirgt sich laut den Machern eine „Kooperation zwischen traditioneller italienischer Gastronomiekunst und modernen Konzepten städtischer Landwirtschaft, Permakultur und Ernährungssouveränität.“ Oder in Kurz: Mein neuer Lieblingsitaliener in Berlin! Die Auswahl der Speisen richtet sich neben ausgesuchten Spezialitäten aus Italien nach dem saisonalen Angebot des rund 1.000 Quadratmeter fassenden eigenen Gemüse-, Salat- und Kräutergartens im Hinterhof; übrigens die einzige Permakultur-Gärtnerei in Berlin mit Bio-Zertifizierung. Wir bestellen einmal bunt durch die Karte: Es gibt Ossobuco (mit Mircogreens, Gremolata, Polentaschnitte und Emmer-Dattel-Salat), Strozzapreti alla Gricia (hausgemachte Pasta mit Kräutern, Hülsenfrüchten und mit gegrilltem Schweinebackenspeck aus Umbrien) und die vegane Botanico-Pasta (ebenfalls hausgemachte Pasta mit Karotte, Kichererbsen, gehackten Nüssen.
Mittlerweile sind wir gut gesättigt und sowohl von alkoholischer Begleitung, wie auch den positiven Erfahrungen durch das Gegessene freudig angeheitert. Zeit für einen Gute-Nacht-Drink! Passenderweise gibt es nur wenige Schritte weiter um die Ecke mit der Velvet Bar eine Anlaufstelle für Cocktail-Liebhaber, die auch bei ihren Drinks nicht auf super-regionale Zutaten verzichten wollen. Die Getränkekarte liest sich deshalb auch wie die Einkaufsliste eines Küchenchefs: Schwarzer Knoblauch, Meerrettich, Boskop Apfel, Rote Beete. Ich entscheide mich für die vermeintlich weniger experimentelle Option und bekomme einen „First Flush“ – Gin, Sake, Birnenbrand und eigenes gesammelter Kornellkirschblüte aus Kreuzberg. Schmeckt erstaunlich seifig, aber für mich dann auf längere Zeit doch deutlich genießbarer als der „Flip the Lid“ mit schwarzem Knoblauch, der mit Mezcal, Aquavit, Kaffeegeist und Schokoladenbitter einfach nur ein Brett ist, das so vor rauchigen Aromen strotzt. Wer auf abgefahrene Non-Standard-Cocktails steht, hat hier seinen potentiellen Delirium-Himmel gefunden.
Tag 2
Ob Craft Beer oder Kornellkirschblüte aus’m Kiez – der Morgen des 2. Tages startet dann doch etwas langsamer als erwartet. Und doch finden wir uns um kurz vor 10 im Haferkater wieder, um mit „good old porridge“ den 2. Tag einzuläuten. Hier wird den ganzen Tag über frischer Haferbrei gekocht und mit verschiedenen Toppings serviert: Während der wärmeren Jahreshälfte gibt es zum Beispiel frische Früchte, wohingegen im Winter Kompott, Nüsse und Beeren auf der Karte stehen. Unserer leicht verkaterten Müdigkeit wird mit einem Apfelkater (mit hausgemachtem Apfelmus, Walnüssen, Zimt) und einem Waldbeerkater (mit Waldbeerenkompott, gerösteten Kokosflocken, Zartbitterschokolade) eingeheizt. Und hey, es schmeckt und klappt!
Vom Prenzlauer Berg geht es nach Berlin-Charlottenburg, wo ein weiterer Food Trend ausgecheckt wird: Zero Waste. Denn mit SirPlus gibt es hier das deutschlandweit erst zweite Lebensmittelgeschäft (nach The Good Food in Köln), welches ausschließlich gerettete Lebensmittel verkauft. All das, was der Erzeuger oder Großhändler aussortiert und nicht mehr verkaufen kann, kommt hier zu unschlagbar günstigen Preisen in die Regale. Die Pastinake ist unförmig oder das Kokosnusswasser nah am Mindesthaltbarkeitsdatum? Hier werden solche Lebensmittel wertgeschätzt und zurück in den Kreislauf gebracht, um am Ende nicht in der Tonne, sondern unseren Mägen zu landen.
Mittlerweile ist es kurz vor 12 und wir verspüren schon wieder ein kleines Hüngerchen. Lucky us, denn in unmittelbarer Laufnähe finden wir das erst vor wenigen Monaten frisch eröffnete Restaurant Funky Fisch. Mit dem „spanischen Fischrestaurant mit japanischem Twist“ hat der Kiez-King The Duc Ngo schon seinen zehnten Laden aufgemacht und ist damit einer der wichtigsten Gastronomen der Hauptstadt. Das Funky Fish steht für Seafood à la plancha, d.h. einfach gegrillt, mit Olivenöl, Meersalz. Außerdem gibt es Ceviche, Poke, und Bouillabaisse. Wir probieren einen Mixed Poke mit Thunfisch, Lachs und Kabeljau sowie Backfischbrötchen „Chinese Style“ und sind hin und weg. Aber irgendwie auch klar, dass bei derart frischen und guten Zutaten das Ergebnis gar nicht schlecht werden kann.
Mit der S-Bahn fahren wir in der Folge ab Savignyplatz zurück nach Berlin-Mitte, um vom Alex ein paar Schritte entlang der Bahngleisen zu gehen, ehe wir vor dem 2. Gewinner des letzten Leaders Club Award stehen: The Good Bank! „Willkommen in der Farm der Zukunft“ heißt es hier und es gibt vor allem Salat, der direkt vor den Augen geerntet wird. Aktuell gedeihen hier Babygrünkohl und zwei Salatsorten, die in etwa alle zwei Tage geerntet und sofort wieder nachgepflanzt werden. Wir wählen den „Vegan Winter Harvest“ und bekommen eine Bowl mit Grünkohl, Kürbis, Karotten, Reis, Blumenkohl, Kürbiskernen und einem Zitronen-Öl-Dressing. Das Essen ist simpel, aber gut. Klar aber, dass sich hier ein Besuch in erster Linie aufgrund des „vertical-farm-to-table-restaurant“-Konzeptes lohnt.
Von der Silbermedaille zur Goldmedaille – nächster Halt sind die frisch gekürten Gewinner des Deutschen Gastro Startups Preises Isla Coffee Berlin. Auch hier steht Nachhaltigkeit im Vordergrund: Das Kreislauf-Prinzip ist gelebte Realität. Klar, auch hier gibt es Third Wave Coffee und am Wochenende einen fantastischen Brunch. Doch das Besondere ist, dass versucht wird, Abfall zu vermeiden und generell Ressourcen zu schonen. So wird die Pulpe vom Karottensaft (also das, was beim Pressen übrig bleibt) einfach im Kuchen verbacken. Ein anderes Beispiel für das zu Ende gedachte Abfall-Management von Nahrungsmitteln ist die aufgeschäumte Milch: Bei Isla sammelt man die Milchreste von Aufschäumen (bis zu 2l Liter am Tag!) und macht daraus Ricotta oder Brotpudding, der beim Wochenend-Brunch serviert wird. Für uns gibt es leckeren Bananenkuchen und Espresso Doppio, garniert mit dem guten Gefühl, dass hier Lebensmittel vollends wertgeschätzt werden.
Das nächste Highlight wartet am Abend auf uns: Wir haben für 20 Uhr einen Tisch im Horváthreserviert, welches auf seiner Webseite mit „Kreativität durch Zensur“ und „emanzipatorischer Küche von Österreich nach Berlin“ wirbt. Der Chefkoch hinter dem Konzept, Sebastian Frank, ist nicht umsonst mit zwei Sternen im Guide Michelin ausgezeichnet. Und das, obwohl seine Küche gemüsefokussiert ist! Von Produktqualität und handwerklichem Geschick lebend bekommen wir ein 5-Gang-Menü serviert, welches sich edler Grundprodukte verwehrt, dafür aber simple Lebensmittel wie Sellerie oder Topinambur raffiniert in Szene setzt. Im Detail: Röstgemüsereduktion; gedämpfter Knollensellerie in legierter Hünerbouillon (beides Grüße aus der Küche); „Reisfleisch“ mit Kaltauszug vom Blumenkohl; kurz gegrilltes Störfilet mit Paprika-Zwiebel-Butter und einer Vinaigrette von Paprika-Kaltauszug, „Topinamburgkrokette“ mit Kohlrabisoße und saurer Birne in Senflake; „Schulterscherzel“ gegrillter Schaufelbraten vom Rind mit Semmel-Kren Sauce, Karotte, Röstcreme vom Wurzelgemüse und marinierten Petersilienwurzelherzen; Kümmelbaiser mit geröstetem Schwarzbrot, Sorbet von Apfelblüte und Holunder sowie einem Waldmeistersud. Ebenso großartig war die Möglichkeit, anstelle der Weinbegleitung auf eine alkoholfreie Begleitung umzustellen, die einem dann Überraschungen in Form von Teeauszügen, Gemüsesäften, Ölen und Reduktionen offenbarte. Was kann man sagen? Ein gelungener Abschluss für eine Genussreise durch die Hauptstadt.
Was man bei all den neuen Konzepten schnell bemerkt: Wir können in gewisser Weise eine Wende in unserem Essverhalten beobachten. Und damit meine ich die Art und Weise, wie wir Genuss erleben. In diesem Kontext ändert sich vor allem unsere Beziehung zum Fleisch grundlegend, was jedoch nicht heißt, dass wir nun alle Vegetarier oder gar Veganer werden. Aber unser Fleischkonsum findet vermehrt unter anderen Vorzeichen statt: Fleisch ist immer seltener das Nonplusultra bei unseren Gerichten. Gemüse hingegen wird aufgrund zunehmend raffinierterer Zubereitungsweisen und ausgefallener Gastronomiekonzepte immer bedeutender und wandert vom Rand in die Mitte des Tellers. Die vegetarische und vegane Küche ist enorm vielfältig, bunt und kreativ geworden und begeistert so auch zunehmend hart gesottene Carnivoren.
Und nun sitze ich hier am Morgen des dritten Tages in typischer Berlin-Hipster-Manier in einem Café und tippe mir diese Zeilen nach einem eindrucksvollen Wochenende von der Seele. Direkt die „Good News“ vorab: Ich habe das Gefühl, dass sich arg viel tut auf dem Food-Markt. Und immer häufiger sind es auch absolute Quereinsteiger, die Ihre Erfüllung und ihr berufliches Glück im Umgang mit Lebensmitteln probieren – ob als Gastronomiebetreiber oder Lebensmittelhändler. Und das führt letztlich dazu, dass sich wieder mehr Menschen intensiver mit Lebensmitteln beschäftigen. Ach ja, das Café, welches mir gerade mein „Berlin-talian“ Frühstück serviert (mein Klassiker: Cappuccino und Croissant), ist das 100brote im Prenzlauer Berg. Hier heißt es generell: „Endlich wieder richtig gutes Brot.“ und das Sortiment umfasst ausschließlich Bio-Brote aus der Region.
Wir erleben den Trend hin zum Meet Food: Konsumenten wollen nicht nur verbrauchen, sondern auch sinnlich erleben. Immer mehr Menschen interessieren sich dafür, was sie essen, woher ihr Essen kommt, woraus es sich zusammensetzt, wie es verarbeitet und letztlich auch zubereitet wird. Das führt dazu, dass Hersteller mit Angeboten reagieren, die Begegnung ermöglichen.
Damit einhergeht geht das Bedürfnis nach De-Processing: Ich beobachte ein gesellschaftliches Verlangen nach Produktionsprozessen, die das alte Industriefertigungs-Paradigma des „immer schneller, billiger und mehr” hinter sich lassen und stattdessen vor allem auf Qualität setzen. Und Qualität wird bei den Deutschen laut Umfragen vor allem mit unbehandelten und frischen Lebensmitteln gleichgesetzt. Geringere Verarbeitung sowie weniger Zusatz- und Hilfsstoffe bei gleichzeitig erhöhter Transparenz über die Ausgangsprodukte sind die erforderlichen Antworten auf das gesteigerte Bedürfnis nach Natürlichkeit und Authentizität.
Und schließlich ist da noch die sich immer weiter verbreitende Erkenntnis, dass Verschwendung (ganz gleich ob bei Verpackungen oder Lebensmitteln selbst) einfach uncool ist. Nach Recycling und Upcycling kommt nun Precycling – „Zero Waste“ und damit erst gar keinen Abfall anfallen zu lassen ist das Prinzip der Stunde. Wir werden also zukünftig immer mehr Foodies sehen, die sich in ihren Restaurants oder Lebensmittelgeschäften mit Nose-to-Tail (im Falle von Fleisch) und Leaf-to-Root (bei Obst & Gemüse) beschäftigen, d.h. die Wertschätzung des kompletten Produkts. Denn natürlich kann man aus dem Karottengrün noch ein leckeres Pesto zaubern und Innerein kommen so langsam auch wieder in Mode!
Am Ende des Tages ist jedoch unbestritten klar und damit schließt sich der Kreis zu meinem Eingangs-Statement: Food Trends zeigen immer Lebensgefühle und Sehnsüchte an. Und insofern ist es schön zu sehen, dass die neuen Gastronomie- und Handelskonzepte dazu führen, dass sich die Distanz zwischen uns und unseren Lebensmitteln wieder etwas verringert.