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Food Trends für mehr Lebensmittelwertschätzung

By September 11th, 2019No Comments

Die Ernährungsbranche scheint wie keine andere immer neuen Entwicklungen und Veränderungen unterworfen zu sein. Food Trends sind die Indikatoren neuer Bedürfnisse der KonsumentInnen, die es mit neuen Produkten und Dienstleistungen zu beantworten gilt. Nach Convenience und Gesundheit spielt nun immer häufiger das Thema Nachhaltigkeit eine Rolle – und macht so Lebensmittelverschwendung zum Ausgangspunkt neuer Geschäftsmodelle.

Photo by Markus Spiske on Unsplash

Industrialisierung und Globalisierung unserer Ernährung haben dazu geführt, dass wir alle erdenklichen Lebensmittel rund um die Uhr zur Verfügung haben. Das ist auf der einen Seite erfreulich, ermöglicht uns dieser Fortschritt doch Vielfalt, Neugier und Individualisierung beim Essen. Auf der anderen Seite führt uns dies aber immer mehr in eine Überflussgesellschaft, die immer häufiger zu einer Verschwendungsgesellschaft wird. Und irgendwo ist das auch nicht wirklich verwunderlich, denn wenn viel von etwas da ist, schätzt man es irgendwann automatisch weniger wert.

Die Folge: Weltweit werden rund 1,3 Milliarden Tonnen essbarer Lebensmittel pro Jahr weggeworfen. Das ist in etwa ein Drittel der gesamten globalen Nahrungsmittelproduktion. Auf 198 Millionen Hektar Land werden Lebensmittel angebaut, die wir am Ende nicht verzehren – das entspricht in etwa der Fläche Mexikos! Auch leider werden auch in Deutschland viele Lebensmittel weggeworfen: Über 18 Millionen Tonnen und damit mehr als ein Drittel des aktuellen Nahrungsmittelverbrauchs landen hier pro Jahr im Müll. Obst und Gemüse machen mit 44 Prozent fast die Hälfte unserer Lebensmittelabfälle aus.  

„Glatte Haut, glänzendes Erscheinungsbild und perfekte Maße – klingt nach einem Slogan aus der Beautybranche, ist aber mittlerweile auch unser Anspruch an Lebensmittel.“

 

Glatte Haut, glänzendes Erscheinungsbild und perfekte Maße – klingt nach einem Slogan aus der Beautybranche, ist aber mittlerweile auch unser Anspruch an Lebensmittel. In unserem Kontext beschreiben sie aber die Erwartungen der Gesellschaft und der Lebensmittelindustrie an das Aussehen von Obst und Gemüse – und sind damit eine wichtige Ursache unserer Lebensmittelverschwendung. Denn: formschön und makellos muss es sein, sonst stimmt ja damit etwas nicht!

Ugly-Food-Bewegung

Mittlerweile gibt es jedoch immer mehr Initiativen, die diesen künstlichen Perfektionismus in der Lebensmittelbranche und die damit einhergehende Verschwendung nicht länger hinnehmen wollen. Das „Ugly Food Movement“ stellt das Schiefe, Krumme und Unförmige in den Fokus und appelliert an die Einzigartigkeit der landwirtschaftlichen Erzeugnisse.

In Sachen Geschmack und Nährstoffgehalt müssen sich diese Produkte  ja ohnehin nicht verstecken. Die EU-finanzierte Qlif-Studie berücksichtig 180 wissenschaftliche Publikationen und belegt, dass ökologische Lebensmittel (die ja häufig „Wunderlinge“ hervorbringen) meist mehr Nährstoffe enthalten, da sie aufgrund geringerer Düngung und Pestizidbehandlung im Kampf gegen äußere Einflüsse eigene „Abwehrkräfte“ entwickeln. Dies führt dazu, dass diese für den Menschen neben Vitaminen auch mehr Antioxidantien (bis zu 40 Prozent) bereitstellen. Stress beim Pflanzenwachstum macht sie also kräftiger und gesünder!

Immer mehr etablierte Handelsunternehmen springen deshalb auf den Nachhaltigkeitszug auf und verkaufen auch unförmiges Obst und Gemüse als „konkrete Maßnahme gegen die Wegwerfkultur“ in ihren Supermärkten. Was dabei scheinbar alle verstanden haben: Das Wort „ugly“ bzw. „hässlich“ macht sich in Sachen Marketing und Kommunikation nicht wirklich gut. Ob „Inglorious Fruits & Vegetables“ (bei Intermaché in Frankreich), „wonky“ (bei ASDA in England), „naturally imperfect“ (bei Loblaws in Kanada), „Produce with personality“ (bei Giant Eagle in den USA), „Ünique“ (bei Coop in der Schweiz), die „Bio-Helden“ (bei Penny in Deutschland) oder eben als „Wunderlinge“ (bei REWE Österreich) – die Bezeichnungen in den jeweiligen Auslagen versuchen, den viel zu lange vernachlässigten Lebensmitteln mit charismatischen Ecken und Kanten wieder zu mehr Ansehen zu verhelfen.

Und die krummen Gurken, seltsam geformten Kartoffeln, verfärbten Zitronen und unförmigen Karotten scheinen bei den Kunden gut anzukommen. So zog beispielsweise die deutsche Discounterkette Penny nach einem Jahr Verkauf der Bio-Helden überraschend positive Bilanz: Die verkauften Mengen stiegen so schnell in die Höhe, dass die Verantwortlichen kurzerhand das Sortiment des krummen Gemüses von 13 auf 21 Sorten erweiterten. Und das sogar, obwohl die krummen Lebensmittel nicht einmal billiger als das normale Obst und Gemüse waren.

Wandel unserer Ernährungskultur

Am Ende des Tages ist auch dieses Vorgehen der Supermärkte Teil gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen, die sich wieder mehr in Richtung Wertschätzung von Lebensmitteln bewegen. Sie spiegeln die Sehnsüchte und Gefühle von Pionieren und gesellschaftlichen Avantgarden wider. Gerade weil wir so viel Auswahl an Lebensmitteln haben, sollten wir jene, die wir konsumieren, besonders wertschätzen.

„Gerade weil wir so viel Auswahl an Lebensmitteln haben, sollten wir jene, die wir konsumieren,  besonders wertschätzen.“

 

Ob Zero Waste, Nose-to-Tail und Leaf-to-Root oder Local Food, wir sind – zumindest in Nischen – wieder dabei, unsere Ernährung ernster zu nehmen und in Sachen Nachhaltigkeit neue Maßstäbe zu setzen. In der Zukunftsforschung spricht man hier von sogenannten Food Trends, die aufgrund neuer bzw. unbefriedigter Bedürfnisse in der Gesellschaft neue Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle entstehen lassen. Um dies jedoch besser verstehen und einordnen zu können, muss man sich eine Sache immer wieder vor Augen führen: Diese Erscheinungen sind immer Folge übergeordneter Megatrends – also globale und epochale Entwicklung in unserer Gesellschaft; die „Tiefenströmungen des Wandels“, welche die Welt zwar langsam, aber grundlegend und langfristig verändern (Zukunftsinstitut, 2018).

Eigene Darstellung nach Zukunftsinstitut (2018)

So hat beispielsweise die Globalisierung unserer Ernährung dazu geführt, dass wir eine Rückbesinnung auf Regionales und Lokales beobachten können, die sich beispielsweise in den Food-Trends „Local Food“ oder „Slow Food“ (vgl. mein Text zu Slowness) äußert: Zunehmend industrialisierte und sich weltweit angleichende Esslösungen ließen bei uns die Sehnsucht nach Regionalität (z. B. regionale Produkte und Herstellungsweisen), Vertrautheit, Authentizität und Natürlichkeit entstehen. Wir fragen wieder häufiger nach, wo unsere Lebensmittel herkommen und wie sie entstanden sind, wer hinter den Produkten steckt und welche Geschichte sie uns damit erzählen möchten. Es ist also weniger der Teller selbst als vielmehr der Weg dorthin, welcher immer häufiger wieder das Maß aller Dinge ist.

Lebensmittelwertschätzung als Trend

Werfen wir nun einen Blick auf ein paar ausgewählte Food Trends, die sich – zumindest implizit – mit dem Thema Lebensmittelverschwendung auseinandersetzen, indem sie wieder zu mehr Wertschätzung des gesamten Lebensmittels beitragen wollen:

Zero Waste

Unsere Konsumkultur hat dazu geführt, dass wir große Massen an Müll produzieren – sei es bei Verpackungen oder aber bei den Lebensmitteln selbst. Der Zero-Waste- Ansatz möchte diesem Problem begegnen und hat die Vermeidung von Abfall als Ziel.

Praxis: Das Silo aus Brighton in Großbritannien gilt als erstes Zero-Waste-Restaurant der Welt: Keine Plastikverpackungen, Recyclingmöbel und eine 28.000 Euro teure Kompostier- maschine namens „Bertha“, die Speisereste in Kompost verwandelt und für den eigenen Garten bereitstellt.

Leaf-to-Root & Nose-to-Tail

Der Überfluss hat dazu geführt, dass wir irgendwann nur noch das Filet und den schönsten Teil der Frucht gegessen haben. Dass bei vielen Lebensmitteln aber das ganze Produkt verwertet werden kann und auch enorm viel Genusspotenzial abseits der klassischen Teile vorhanden ist, zeigen der Nose-to-Tail- (Fleisch) und der Leaf- to-Root-Trend (Obst & Gemüse).

Praxis: Dass es bei „Eat it all“ nicht nur um Nachhaltigkeit, sondern eben auch um Genuss geht, zeigt das Gußhaus in Wien. Hier ist Beuschel (obere Eingeweide des Tieres) der absolute Verkaufsschlager. Und Avantgardebauer Matthias Hollenstein aus Zürich verkauft Sachen, die sonst nicht wirklich für den Konsumenten sichtbar sind – etwa Randenblätter oder Fenchelwurzel.

Local & Seasonal Food

Unübersichtlichkeit und zunehmend standardisierte Lösungen lassen das Verlangen nach Regionalität, Vertrautheit, Authentizität und Natürlichkeit erstarken. Traditionelle Gerichte und Zubereitungsweisen mit lokalen und saisonalen Erzeugnissen versprechen Genuss, der Identifikation und Sinn stiftet.

Praxis: Gerade die Sterneküche bedient sich zur Zeit dieses Trends. Ob das Seven Swans in Frankfurt oder das Nobelhart & Schmutzig in Berlin – gekocht wird nur mit lokalen (meist in Permakulturen selbst angebauten) Lebensmitteln, die gerade Saison haben.

DIY Food

Transparenz, Emanzipation und Eigeninitiative statt standardisierter und intransparenter Prozesse der Lebensmittelindustrie. Bei der „Do it yourself“-Kultur sind Selbermachen und Wertschätzung angesagt.

Praxis: „Deutschland blubbert wieder“, konnte man vor Kurzem in den Medien vernehmen. Gemeint ist die wiederentdeckte Freude an alten Konservierungstechniken wie dem Fermentieren. Jetzt wird das Sauerkraut wieder selbst hergestellt, frei von Zusatz- und Aromastoffen.

Die vergangenen jahrzehntelangen Entwicklungen und Fortschritte der Lebensmittelindustrie bringen uns nun immer häufiger an einen Punkt, an dem wir die Art und Weise, wie wir uns ernähren und was das für uns und unsere Umwelt bedeutet, grundlegend in Frage stellen. Oben genannte Food Trends sind sozusagen gesellschaftliche Gegenimpulse zu dem “immer höher, immer schneller, immer weiter” der ausschließlich auf Profit getrimmten Ernährungsindustrie. Doch wenn diese uns am Ende wieder näher zu unseren Lebensmitteln bringen und die Wertschätzung für die Produkte erhöhten würden, hätten doch eigentlich alle was davon, oder?

 

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Quellen:

  • Zukunftsinstitut (2018): Food Report 2018. Frankfurt.

Weiterführende Informationen:

Dieser Text ist ein leicht abgewandelter Auszug aus meinem Buch „Weil wir Essen lieben – vom achtsamen Umgang mit Lebensmitteln“, welches ich mit Katharina Schulenburg geschrieben habe. Mehr Infos sowie Bestellung unter https://oekom.de/nc/buecher/fachbuch/konsum-ernaehrung/buch/weil-wir-essen-lieben.html

Interview in der Sendung phoenix plus unter dem Titel „Der korrekte Konsum“ (ab Minute 17:54):

ZDF-Porträt über mein Engagement gegen die Lebensmittelverschwendung, u.a. auch mit Bildern zum Buch: