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Do it yourself! Wie die Corona-Krise einen neuen Selbermach-Boom fördert

By April 1st, 2020No Comments

Von jetzt auf gleich wurden wir aufgrund von Corona gezwungen, vom Gas zu gehen. Viele Menschen haben auf einmal viel Zeit. Dies führt in der Folge zu einem neuen Boom der Do-it-yourself-Kultur – vor allem in Bezug auf unsere Essgewohnheiten. Die Corona-Krise bietet uns somit eine Chance, unsere Ernährung emanzipierter, kreativer und zukunftsfähiger zu gestalten. Lasst sie uns wahrnehmen!

Artur Rutkowski via Unsplash

Artur Rutkowski via Unsplash

Auf einmal ist unser aller Leben langsamer geworden. Wir erleben in weiten Teilen der Gesellschaft eine super-beschleunigte Entschleunigung, quasi eine Vollbremsung in die Slowness – ein merkwürdig paradoxes Schauspiel, das uns vom einen auf den anderen Tag einen enormen Zeitwohlstand beschert. Zumindest jenen, die sich aufgrund der neuen Situation nun nicht außer Plan um Erziehung, Bildung und Versorgung ihrer Kinder oder der Pflege von Angehörigen kümmern müssen und im Gesundheitssektor oder im Lebensmittelhandel berufstätig sind. Viele andere sehen sich jedoch mit einem entschleunigten Alltag konfrontiert und haben plötzlich vor allem eins: Mehr Zeit.

Dabei ist es besonders spannend zu sehen, was die Corona-Krise mit unserer Ernährung anstellt. Zu Beginn der Pandemie äußerte sich die große gesellschaftliche Unsicherheit in einer gefühlt unbefriedigbaren Nachfrage nach Pasta, Mehl und Konserven. In Supermärkten wiesen entsprechende Regalabschnitte klaffende Leerstellen auf, Lebensmittelproduzenten mussten Schichtbetrieb und Wochenendarbeit einführen und schließlich Hamsterkäufe mit entsprechenden Regularien unterbunden werden. 

Kann man aufgrund des neuen Konsumverhaltens der Endverbraucher (kulinarisch betrachtet) daraus schlussfolgern, dass die Deutschen im Zuge dieser Krise nun nur noch Pasta mit Pesto aus dem Glas oder Dosensuppen essen? Nein, denn auf der anderen Seite fangen wir auf einmal wieder an, Dinge selbst zu machen. 

Der „Do it yourself“-Trend, insbesondere beim Essen (im Trendforscherjargon „DIY Food“ genannt), erfährt eine wahre Renaissance: Fotos von selbst zubereitetem Essen füllen die Social-Media-Kanäle (#coronafood), Rezept-e-Books, Food-Blogs und DIY-Youtube-Videos „à la Corona-Special“ boomen und als Folge des frühlingshaften Wetters und der zunehmend vielen Sonnenstunden werden allerorten nun Obst, Gemüse und Kräuter in den Gärten, auf den Balkonen oder Fensterbänken angebaut.

Aufgrund der Ausgangsbeschränkungen und der vielen (erzwungenen) Stunden in den heimischen vier Wänden wird der mittwoch- oder samstägliche Spaziergang zum Wochenmarkt auf dem Kiez um die Ecke wahrlich zelebriert. Das Bedürfnis nach frischer Luft lässt sich so wunderbar mit Solidarität gegenüber ErzeugerInnen verbinden – natürlich alles unter Einhaltung des Sicherheitsabstandes von mindestens zwei Metern. 

Unsere hier und da neugewonnene Freizeit lässt sich immer mehr Menschen dafür interessieren, zum Beispiel ihr Brot selbst zu backen, Sauerkraut selbst einzulegen, Obst zu Marmeladen zu verarbeiten und Gemüse einzumachen. Das Prädikat „hausgemacht“ verspricht nicht nur Geschmackserlebnisse frei von Zusatz- und Aromastoffen, sondern bildet in Zeiten von Corona auch eine abwechslungsreiche und den Menschen auf eine fast vergessene Weise (heraus-)fordernde Beschäftigungtherapie. 

Während bis zur Industrialisierung DIY gelebter Alltag war – es gab halt schlichtweg noch kein Convenience Food in Dosen –, ist es nun die Freude an einer handwerklichen Tätigkeit in einer zunehmend digitalisierten Lebenswirklichkeit. Erst recht jetzt wo man sich gefühlt den ganzen Tag von Zoom-Meeting zu Slack-Call und Email-Posteingang klickt. Selbermachen stellt somit einen überaus angenehmen Ausgleich zu einem stressigen und irgendwo recht eintönigen Arbeitsalltag dar, in dem berufliche Erfolge oft länger auf sich warten lassen als das Aufgehen des eben durchgekneteten Sauerteigs.

 

„Im Selbermachen drückt sich der Wunsch nach Autarkie ebenso aus wie die Sehnsucht nach Partizipation.“

 

„Do it yourself“ stellt ökonomisch die reinste Form der Individualisierung dar. Zwar will man sich in gewisser Weise als „Prosument*in“ emanzipieren, d.h. Konsument*in sein, die/der auch in die Produktion involviert und/oder unabhängiger ist (aufgrund diverser Lebensmittelskandale in der Vergangenheit und dem dadurch gestiegenen Bedürfnis nach Transparenz und Vertrauen); doch im Selbermachen drückt sich der Wunsch nach Autarkie ebenso aus wie die Sehnsucht nach Partizipation. Denn das neugewonnene Wissen über Lebensmittelproduktions- oder Konservierungstechniken will auch geteilt, diskutiert und im Austausch mit Gleichgesinnten weiterentwickelt werden. 

Und so ist der DIY-Trend auch nicht als absolute Negation von Digitalität zu verstehen, sondern als eine diese auf ein humaneres Maß bringende gesellschaftliche Entwicklung. Denn die bisweilen zunehmende Dominanz des Audiovisuellen und der Mediatisierung im Zuge der Digitalisierung (und der hierdurch empfundene Verlust des direkten Realitätsbezugs) steigern das individuelle Bedürfnis nach Berührung, Authentizität und erlebter Realität. Der digitale Wandel in unserer Gesellschaft ist also in gewisser Weise mit Schuld daran (oder besser gesagt: es ist ihm dafür zu danken), dass wir – auch schon vor Corona – ein wieder wachsendes Interesse an den Themen Kochen und Essenszubereitung beobachten können. 

 

„Alles passiert auf dem Smartphone. Was bitte kannst du noch anfassen?“

 

„Alles passiert auf dem Smartphone. Was bitte kannst du noch anfassen?“ brachte Rene Redzepi, Chefkoch des mehrfach als „Bestes Restaurant der Welt” ausgezeichneten Noma in Kopenhagen, das immanent in uns verwurzelte gesellschaftliche Verlangen nach dem Haptischen auf den Punkt. Essen werde sogar auf lange Sicht das Einzige sein, das Menschen mit der analogen Welt verbinde. Unsere „orale Lust“ (oder anders: unser Bock auf Essen) wird zum Ersatz für nicht anders erlebbare Realität und Ausdruck eines Wunsches nach Nähe. 

Klar ist: Die Corona-Krise schränkt uns Menschen in unserer räumlichen und zeitlichen Wahrnehmung extrem ein. Dies führt dazu, dass wir vor allem im Hier und Jetzt agieren. Doch laut dem Soziologen Hartmut Rosa läge genau darin die Chance für „Grundmomente von Resonanz“ – also Momente, die uns Menschen aus dem Hamsterrad aussteigen und echte Erlebnisse erfahren lassen. Und sind wir mal ganz ehrlich: Was liegt da näher als unsere Ernährung?

Mein Vorschlag: Nutzen wir die Zeit und investieren sie in selbstgemachtes Essen. Lasst uns unseren kulinarischen Horizon erweitern und Gurken einlegen, Brot backen, Marmeladen und Chutneys kochen, Sellerie räuchern, Sauerkraut ansetzen, Tomaten trocknen, Tortellini formen oder einfach nur Spaghetti mit Tomatensoße kochen – Hauptsache, mensch macht die Dinge mal selbst. Denn am Ende des Tages steigert das nicht nur das Sinnempfinden der investierten Zeit, sondern vor allem auch die Wertschätzung für die Lebensmittel. Und noch ein Vorteil: In den meisten Fällen schmeckt es auch besser.