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Fasten als gesellschaftliches Experiment für mehr Achtsamkeit

By Februar 26th, 2020No Comments

Fastenzeit! Schöne Zeit? Das Gebot der Enthaltsamkeit gilt schon lange nicht mehr nur im religiösen Bereich, sondern ist in der gesellschaftlichen Mitte angekommen. Doch warum üben sich Menschen eigentlich in Verzicht? Was wird gefastet? Und stellt euch mal vor, wir könnten Fasten als gesellschaftliches Experiment für mehr Nachhaltigkeit und Achtsamkeit nutzen – ein Gedankenspiel.

Photo by Mukul Wadhwa on Unsplash

Herkunft und Wandel der Fastenkultur

Fasten ist nichts Neues. Seit knapp 2.000 Jahren kennt man das Phänomen der „Passionszeit” oder “österlichen Bußzeit” als Vorbereitung auf das Hochfest Ostern. Der Begriff Fasten in seiner ursprünglichen Bedeutung heißt so viel wie festhalten, und zwar am Gebot der Enthaltsamkeit – in der katholischen Kirche während der Zeit zwischen Aschermittwoch und Karfreitag. Das macht unter strengen Fastenregeln 40 Tage Enthaltsamkeit.

Doch wo man früher noch in erster Linie fastete, um Buße zu tun, Gott näher zu kommen und damit die eigene Erlösung herbeizuführen, sind es heute in den seltensten Fällen derart religiöse Motive. Im Gegenteil: Man fastet nicht für eine vermeintlich höhere Kraft oder Zeit nach dem eigenen Leben, sondern für sich selbst – und zwar im Hier und Jetzt. Es geht beim Fasten folglich in erster Linie um die eigene Gesundheit, nicht weniger oft um Selbstdisziplin und immer häufiger auch um Nachhaltigkeit. Nicht selten ist die Fastenzeit ein willkommener Zeitpunkt, um endlich mal die ambitioniert-gesteckten Neujahrsvorsätze umzusetzen.

„Es geht beim Fasten um die eigene Gesundheit, nicht weniger oft um Selbstdisziplin und immer häufiger auch um Nachhaltigkeit.“

 

Und in der Tat: Fasten wird immer populärer. Das Forschungsunternehmen forsa führt seit 2012 jährlich Umfragen durch und konnte in seinem letzten Ergebnisbericht dieses Jahr einen neuen Rekordzuspruch vermelden: Mit 63 Prozent halten es so viele Menschen wie noch nie zuvor für sinnvoll, für mehrere Wochen gezielt auf bestimmte Genussmittel oder Konsumgüter zu verzichten. In der ersten Auflage der Befragung lag dieser Wert noch bei knapp über 50 Prozent. Dabei sind es insbesondere junge Menschen, die dem Fasten bzw. zeitlich befristeten Verzicht etwas abgewinnen können. 81 Prozent der 18-29-jährigen halten Fasten für sinnvoll. Bei den 30-44-jährigen sind es noch knapp 70 Prozent, wohingegen nur jede/r Zweite der über-60-jährigen Fasten für sinnvoll erachtet.

Konsum-Überforderung in der Multi-Optionen-Gesellschaft

Eigentlich ist es ja schon etwas paradox. Wir leben in einer Zeit, die für alles andere steht, aber nicht wirklich für achtsamen Konsum oder gar Verzicht. Wir sind Teil einer Konsumgesellschaft, die im Überfluss zuhause ist. Die Maxime „immer höher, immer schneller, immer weiter“ ist zum zentralen Produktions- und Konsumprinzip geworden und lässt uns einer noch nie dagewesenen Vielfalt und Kurzlebigkeit von allen erdenklichen Gütern gegenüberstehen – ganz gleich ob Lebensmittel, Kleidung oder Elektronikgeräte. Einschränkung und Askese? Offensichtlich fehl am Platz.

Doch diese immer stärker zunehmenden Auswahlmöglichkeiten unserer „Multi-Optionen-Gesellschaft“ verfehlen immer häufiger ihren eigentlichen Sinn: Sie machen uns nicht freier und glücklicher, sondern überfordern uns und machen uns krank. Der US-Psychologe Barry Schwartz spricht vom „Paradox of Choice“ (zu Deutsch „Wahlparadoxon“) und meint damit die Tatsache, dass uns zu viele Wahlmöglichkeiten lähmen und in der Folge unzufrieden werden lassen.

Und genau das mag der Grund sein, weshalb das Fasten mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Wir Menschen üben uns für eine gewisse Zeit in Verzicht, um Orientierung und Klarheit zurück zu bekommen. Es geht darum, den eigenen Fokus zurecht zu rücken. Was ist mir wichtig? Was tut mir gut? Was brauche ich wirklich zum Glücklichsein? Der Verzicht und die bewusste Reduktion des Konsums sollen dabei helfen, die persönliche Gesundheit und das individuelle Wohlfühl-Level zu steigern. Man könnte es der Einfachheit auch Gesundzufriedenheit nennen!

„Wir Menschen üben uns für eine gewisse Zeit im Verzicht, um Orientierung und Klarheit zurück zu bekommen. Es geht darum, den eigenen Fokus zurecht zu rücken.“

 

Dabei sind die Klassiker des Fastens oft für das schlechte Gewissen verantwortlich – sei es im Hinblick auf die eigene Gesundheit, oder aber die Nachhaltigkeit des eigenen Lebensstils und damit der Umwelt um einen herum. Laut den letzten verfügbaren Befragungen fasten Menschen vor allem Alkohol und Süßigkeiten. Doch wo im letzten Jahr das Thema Fleisch noch mit 35 Prozent abgeschlagen von dem Top-Fasten-Duo auf dem dritten Platz rangierte, sind es in 2019 schon fast 50 Prozent. Neueste Entwicklungen in der Food-Branche und entsprechende Angebote hin zum Vegetarismus und Veganismus machen diese Art des Fastens dabei auch für eingefleischte Carnivoren immer erträglicher (vgl. mein Artikel zum Fleischkonsum von morgen).

Fasten als Zeitgeist-Offenbarung

Auch kann man häufig an dem, was gefastet wird, den Zeitgeist und aktuell in der Gesellschaft heiß diskutierte Themen ablesen. Und so wird nicht nur immer häufiger auf Fernsehen verzichtet, sondern vor allem auch auf Handy und Computer – 29 Prozent der Deutschen geben an, auch mal bewusst eine Zeit lang offline bleiben zu wollen. Das Dauerbrenner-Thema Digitalisierung scheint vor allem im privaten Bereich hier und da an seine Grenzen zu kommen. Immer neue Datenskandale, zügellose Hasskultur in sozialen Medien und um sich greifende Fake News machen den (meist temporären) Ausstieg zweifellos einfacher.

Eigene Darstellung nach forsa, 2019

Und schließlich wird auch das Bröckeln der Fassade des Deutschen liebsten Statussymbols immer offensichtlicher: Jeder Fünfte gibt an, auf das Auto verzichten zu wollen. Dieselgate und Verbrauchertäuschungen durch die Hersteller auf der einen, aber unter anderem auch Bedenken aufgrund von verstopften und feinstaubbelasteten Innenstädten auf der anderen Seite scheinen den Schritt in die (zeitlich befristete) Auto-Unabhängigkeit zu begünstigen. Und wenn einem die Stadt beim Tausch gegen das Auto dann sogar ein kostenloses ÖPNV-Ticket inkl. Carsharing-Gutschein anbietet, kann das Autofasten einen wahren Mobilitätsreichtum bedeuten.   

Natürlich muss man diese Zahlen mit Vorsicht bewerten. Und auch das Fasten per se sollte und kann nicht als ausgemachte Zukunft für neue gesellschaftliche Bedürfnisse angesehen werden. Doch was wäre, wenn wir diese „Verzichterscheinungen“ und die damit einhergehenden alternativen Konsummuster als Reallabore betrachteten? Was wäre, wenn wir das Fasten als Experimentierfeld für neue Gesellschafstssysteme hin zu mehr Achtsamkeit und Nachhaltigkeit nutzbar machten?

Stellt euch mal vor, es gäbe 40 Tage lang ein Tempolimit von 130 km/h auf deutschen Autobahnen; oder ein Autoverbot in deutschen Innenstädten; oder Gesundheitsampeln auf Süßigkeiten und Alkohol in den Supermärkten, oder echte und damit teurere Preise auf Fleisch, was dann hier und da zwangsläufig zum Fasten führen würde. Was glaubt Ihr – würde es uns besser oder schlechter gehen? Was würde das mit unserer Gesellschaft machen?

Achtsamkeit und bewusster Konsum

Ich bin mir sicher, dass uns das als Gesellschaft helfen könnte, die Dinge unseres Konsums wieder mehr wertzuschätzen und intensiver wahrzunehmen. Konsum würde wieder häufiger mit echtem Genuss und wahrhaftiger Freude einhergehen können, da wir gewisse Selbstverständlichkeiten, deren Exzesse uns und unserer Umwelt nachweislich schaden, wieder ein Stück weit in die Balance rückten. Achtsamkeit bekäme ein Begleiter bei unseren Konsumentscheidungen und vor allem -erlebnissen. Diese besondere Form des temporären Minimalismus, wie ich Fasten jetzt einfach mal übersetze, mag uns aus vermeintlichen Komfortzonen locken und in tatsächliche Wohlfühlbereiche bringen.

„Diese besondere Form des temporären Minimalismus mag uns aus vermeintlichen Komfortzonen locken und in tatsächliche Wohlfühlbereiche bringen.“

 

Klar ist: Achtsamkeit ist die Antwort auf die steigende Komplexität und Verrücktheit unserer Zeit und damit ein fundamentaler Gegenimpuls zur allgegenwärtigen Verschwendungs- und Erregungskultur. Fasten hat das Potenzial, Menschen wieder an den Punkt zu bringen, an dem man sich fragt, was einem gut tut und was man wirklich zum Glücklichsein braucht. Und versteht mich nicht falsch: Es geht mir am Ende nicht um totalen Verzicht, sondern um ein bewussteres, ja achtsameres Maß. Wenn es dann noch durch persönliche und inspirative Erfolgsgeschichten dazu beitragen kann, dass unser Konusmverhalten generell nachhaltiger wird, sollten wir vielleicht öfter Fasten. Natürlich alle, damit sich keiner benachteiligt fühlt. Und hey, es ist ja auch nur temporär. Oder etwa nicht?

 

 

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Quelle:

  • Forsa (2019): Fasten. Ergebnisbericht 2019. Internet.

Weiterführende Informationen:

Ich faste zur Zeit übrigens Verschwendung und bin erfreulicherweise auch Botschafter des „Verschwendungsfasten der Deutschen Umwelthilfe. Lebensmittelverschwendung muss nämlich nicht sein, und Fasten meint hier einfach nur einen achtsameren Umgang mit unseren Lebensmitteln. Mehr auf https://www.duh.de/verschwendungsfasten-2019/

Mein TV-Interview in der Sendung defacto unter dem Titel „Ritual oder Trend: Warum fasten Sie?“:

Die ganze Sendung gibt es hier zum Nachschauen: https://www.hr-fernsehen.de/sendungen-a-z/defacto/sendungen/defacto-fragt-die-hessen-ritual-oder-trend-warum-fasten-sie-,sendung-56602.html