Texte

Vom Minimalismus, der eigentlich ein Maximalismus ist

By Mai 13th, 2019No Comments

Der postmoderne Minimalismus ist der Trend des bewussten und achtsamen Verzichts. Für die einen ist er eine Art psychische Selbsthilfe, um mit dem Überangebot der Gegenwart zurechtzukommen. Für die anderen ist es der Anspruch, durch das eigene Konsumverhalten zu mehr Nachhaltigkeit in der Gesellschaft beizutragen. Große Ziele, welchen der Begriff allein jedoch nicht gerecht wird – Zeit für ein Reframing!

Photo by Mohamed Nohassi on Unsplash

Ob die „333-Challenge”, deren Ziel es ist, drei Monate lang mit nur 33 Kleidungsstücken, inklusive Jacken, Schuhe, Taschen und Accessoires auszukommen; der Kinofilm „100 Dinge“, in welchem sich Florian David Fitz und Matthias Schweighöfer in ihren Rollen als Hardcore-Materialisten plötzlich mit einer begrenzten Anzahl an Dingen zufrieden geben müssen; oder aber das kürzlich erschienene Buch „Einfach Familie leben“, welches dem Leser als Anleitung für das nachhaltige Leben mit Kindern dienen soll – sie alle verbindet ein zentrales Thema: der Minimalismus. Das Versprechen: Durch den Konsum bzw. Nicht-Konsum geht es nicht nur dem Planeten als Ganzes, sondern vor allem auch dem Menschen besser. Was ist dran an einem der Trends unserer Zeit?

Die Motive der Minimalisten

Der Trend zum postmodernen Minimalismus ist primär ein Phänomen der Wohlstandskultur und deshalb auch nur für jene Bevölkerungsgruppen wirklich nachvollziehbar, die im Zuviel leben. Man muss eine ausgeprägte Konsumkultur mit jährlich neu gekauften Smartphones, zeitlich immer kürzeren Modelinien und Supermarkt-Erdbeeren im Januar kennen und auch schon erlebt haben, um sich wirklich bewusst für den achtsamen Verzicht zu entscheiden. Die grundlegende Gleichung hinter dem „Downsizing“ im Privaten: Je weniger ein Mensch besitzt, desto unabhängiger von Konsumzwängen ist er, desto besser geht es ihm.

„Der Trend zum postmodernen Minimalismus ist primär ein Phänomen der Wohlstandskultur und auch nur für jene Bevölkerungsgruppen nachvollziehbar, die im Zuviel leben“

 

Verzicht mag zwar der gemeinsame Nenner aller Minimalisten sein, doch die dahinter liegenden Motive sind unterschiedlicher Natur: Für die einen ist der neue Minimalismus eine Art psychische Selbsthilfe, um mit dem Überangebot und der Immerverfügbarkeit von Informationen und Produkten aller Art zurechtzukommen. Man will also das eigene Wohlfühllevel erhöhen. Der US-Psychologe Barry Schwartz spricht in diesem Kontext vom „Paradox of Choice“ (auf Deutsch: Wahlparadoxon), wonach uns zu viele Wahlmöglichkeiten nicht ein Gefühl von Freiheit vermitteln, sondern – ganz im Gegenteil – uns lähmen und schließlich extrem unglücklich machen. Dieses Gefühl kennt jeder, der schon mal im Supermarkt zehn Minuten vor dem Regal verbracht hat und sich nicht für einen von den zwölf Vanillejoghurts entscheiden konnte.

Für die anderen ist der bewusste Verzicht mit dem persönlichen Anspruch verbunden, durch das eigene (in diesem Fall reduzierte) Konsumverhalten die Gesellschaft nachhaltiger zu gestalten. Das heißt: während die Motivation der einen eher selbstfokussierter Natur ist, haben die anderen ethisch – ökologische Beweggründe. Das Pendel schwankt also zwischen individueller und gesellschaftlich – politischer Motivation. Die Grundidee basiert auf der Annahme, dass Wachstum und Gewinnmaximierung als Prinzipien ausgedient haben. Die gegenwärtige Wachstumsgesellschaft des „immer schneller, höher, weiter, immer mehr“ und daraus resultierende Verschwendungskultur werden zunehmend kritisch in Frage gestellt.

Überfluss am Beispiel der Kleidungsindustrie

Und es stimmt: Wir leben im Überfluss. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte hatten wir Nahrungsmittel und unterschiedliche Konsumgüter in einer derartigen Fülle und Vielseitigkeit zur Verfügung – und das noch zu extrem günstigen Preisen. Ein Beispiel: Jährlich gelangen rund 100 Milliarden neue Kleidungsstücke in unsere Shoppinghäuser und Boutiquen. Und so hat sich – irgendwo kaum verwunderlich – die Zahl der durchschnittlich in Deutschland gekauften Modeartikel zwischen 2000 und 2010 beinahe verdoppelt. Die Summe, die wir dafür ausgeben, jedoch nicht. Der Shoppingrausch ist nachgewiesenermaßen wie ein Drogenrausch: Kurzfristig erfahren wir Hoch- und Glücksgefühle, die uns das Belohnungszentrum unseres Vorderhirns vorgaukelt, doch schon nach einer kurzen Zeit wachen wir mit großer Ernüchterung und meist sogar Reue auf.

Und so platzen unsere Kleiderschränke mittlerweile aus allen Nähten und wir verbringen morgens mehr Zeit damit, die Klamotten für den Tag auszusuchen, als die Waschmaschine schließlich braucht, um jene dann wieder zu reinigen. „Decluttering“, also das Ausmisten und Entrümpeln, wurde in der Folge zum Erfolgsrezept und verhalf der Japanerin Marie Kondo mit ihrer „Magic Cleaning“-Methode zum Welterfolg und in die TIME Magazine-Liste der 100 einflussreichsten Menschen weltweit. Ihre drei Bestsellerbücher wurden sieben Millionen Mal verkauft und leiten uns seither in 27 Sprachen Schritt für Schritt an, wie wir dieses Chaos hinter uns lassen können. Spoiler: So viel Sinn ich im Aufräumen von überfüllten Kleiderschränken sehe, für so wenig sinnvoll halte ich es, das Aussortierte einfach nur zu entsorgen. Um es mit den Worten von Marie Kondo zu sagen: Weiterverteilen oder Upcycling „would spark my joy!“.

Die generelle Simplifizierung der Mode auf einige wesentliche Kleidungsstücke ist ein Faustschlag für die Dominanz der Fashion-Branche und spricht gleichzeitig Wachstumskritiker wie Reduktionsjünger an. Start-ups machen sich dies zunutze und bieten zeitlose Basic – Kleidung ohne Saisonware oder irgendwelche Fashion Trends an. Was einem auf der einen Seite durch das Tragen der immergleichen Klamotten (bzw. Lieblingskleidungsstücke) ein Leben wie im Comic ermöglicht, ist auf der anderen Seite die öffentliche Wehr gegen das Diktat der Fast Fashion-Konzerne.

Verzicht, der eigentlich ein Reichtum ist

Das japanische Sprichwort „Die Unordnung im Zimmer entspricht der Unordnung im Herzen.“ kommt nicht von ungefähr. Das Aufräumen und damit der (temporäre) Verzicht bzw. die Reduktion ermöglicht es uns, die Dinge, die wir noch haben, mehr wertzuschätzen und mit einer erhöhten Intensität zu erfahren. Das tut uns gut, denn wir können bewusster Genuss oder Freude wahrnehmen. Dem zugrunde liegt eine neue Sehnsucht nach Klarheit, Ordnung und Wohlbefinden. Und dabei ist klar, dass sich das „less is more“ jedoch nicht nur auf den Kleiderschrank bezieht, sondern auf alle Bereiche des Lebens – vom Wohnen über unser Medienverhalten bis hin zur Ernährung.

„Die Reduktion ermöglicht es uns, die Dinge, die wir noch haben, mehr wertzuschätzen und mit einer erhöhten Intensität zu erfahren.“

 

Um „weniger ist mehr“ aber auch wirklich leben zu können, müssen wir begreifen, dass es hier nicht um schmerzhafte Askese geht, die unser Leben einschränkt oder uns gar wie im Mittelalter leben lässt. Nein, es geht um das komplette Gegenteil: Gesundzufriedenheit durch bewussten Konsum. Vielleicht ist gerade auch deshalb der Begriff „Minimalismus“ nicht so wirklich passend, transportiert er im ersten Moment doch nur das Mittel der Einschränkung, aber nicht den sich hieraus ergebenden Zweck des besseren Gefühls durch eine andere Art des Reichtums für das Individuum.

Klar ist: Die Anziehungskraft, die der Mehrkonsum lange Zeit auf uns hatte, schwindet. Altes Statusdenken bricht auf, der Materialismus bröckelt und Wohlstand wird in Zukunft nicht durch Besitz, sondern durch Erfahrungen und Zeit definiert. Immaterielle Dinge wie bspw. „Zeit für sich selbst“ sind schon heute für neun von zehn Deutschen unverzichtbar.

Im Englischen nennen wir diese Wertehaltung “Lowsumerism”, und meinen damit, dass einfach nur so viel konsumiert wird, wie auch wirklich benötigt wird. Denn letztlich beruht ein Großteil unseres Konsums auf künstlich geschaffenen Bedürfnissen. Und so führt die Freiheit des Verzichts zu einem ganz besonderen Reichtum: Reichtum durch eine Reduktion der eigenen Komplexität sowie im konkreten Sinne, dass für andere mehr da ist. Der Minimalismus ist so gesehen eigentlich ein Maximalismus! Denn er befriedigt unsere Sehnsucht nach Lebensqualität und Verortung in einer Welt, die ein Überangebot an Lösungen und Wahrheiten bereithält und damit zur Entfremdung des Ichs von seinen eigentlichen Bedürfnissen führt.

 

_____

 

Weiterführende Informationen:

Ich hatte die Freude, genau zu diesem Thema bei Planet Wissen des WDR als Experte eingeladen worden zu sein. Hier gibt es einen kleinen Ausschnitt zu der grundlegenden Frage „Wer wird eigentlich Minimalist?“:

Die ganze Sendung unter dem Titel „Leben ohne Ballast – Ist weniger mehr?“ könnt Ihr in der Mediathek nachschauen: https://www.planet-wissen.de/video-leben-ohne-ballast–ist-weniger-mehr-100.html

Außerdem darf ich euch folgende Studie ans Herz legen, welche den Megatrend „Achtsamkeit“ nicht nur im Hinblick auf den Minimalismus untersucht, sondern bspw. auch im Hinblick auf das Paradigma der Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Gesundheit und Leadership. 

Zukunftsinstitut (2017): Die neue Achtsamkeit. Der Mindshift kommt. Frankfurt am Main.

Nachfolgender Artikel übersetzt diesen Achtsamkeits-Trend auf diverse, avantgardistische Lebensstile, die ihn schon heute leben und in die gesellschaftliche Mitte tragen wollen:

Zukunftsinstitut (2017): Die neue Achtsamkeit – der Mindshift der Avantgarde.