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Wie Corona unsere Ernährung wandelt

By September 4th, 2020No Comments

Die Corona-Krise stellte die Food-Branche vor enorme Herausforderungen. Der Lebensmitteleinzelhandel boomte, die Gastronomie litt. Die Krise brachte Konsumentinnen und Konsumenten auch näher an ihre Lebensmittel, und wir erlebten eine große Renaissance des Kochens. Mit all dem eröffnete die Krise eine riesige Chance, um unsere gesamte Ernährung zukunftsfähiger zu gestalten. 

Ernährung und Esskulturen befinden sich in einem permanenten Wandel, bedingt durch klimatische, kulturelle, wirtschaftliche, technologische und politische Faktoren. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts waren diese Veränderungen radikaler als in jeder Epoche zuvor – bis das Coronavirus plötzlich das komplette gesellschaftliche Leben herunterfuhr. Was bedeutet die Coronakrise für die Art und Weise wie, wo und was wir künftig einkaufen und essen?

Der französische Soziologe Marcel Mauss schrieb bereits vor fast einem Jahrhundert, Essen sei eine „soziale Totalität“, da sich alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens in unserem Essen widerspiegeln. Genau deshalb macht es die Coronakrise besonders spannend, auf das Thema Ernährung zu schauen.

Denn ernährungskulturell erlebten wir im Kontext der Krise eine 180-Grad-Drehung. Zuvor waren unsere Lebens- und damit auch unsere Ernährungsstile immer flexibler, mobiler und individualisierter geworden. Snackification – das Snacken zwischendurch und „on the go“ – war im Zuge der Megatrends New Work, Mobilität und Konnektivität zu dem Food-Trend der Stunde avanciert. Wir erlebten eine Entritualisierung und Entchronologisierung des klassischen Mahlzeitensystems (Frühstück – Mittag – Abendessen) zugunsten einer Ad-hoc-Ernährung. Der Außer-Haus-Markt boomte, und die Gastronomie hatte 2019 in Deutschland erstmals mehr neue Immobilienfläche angemietet als der Textileinzelhandel. Essen war überall – Infinite Food. 

Die Coronakrise änderte alles: Sie bewirkte in weiten Teilen der Gesellschaft superbeschleunigte Entschleunigung, eine Art Vollbremsung in die Langsamkeit. Unser Leben, auch unser kulinarisches, veränderte sich schlagartig und radikal. Gastronomiebetriebe wurden geschlossen, die Menschen mussten zu Hause bleiben. Dadurch gewannen große Teile der Gesellschaft plötzlich vor allem eines – mehr Zeit. Zusammen mit der Isolation im Zuge des Shutdowns entstand daraus ein rekursiver Moment: Wir kochten und aßen wieder gemeinsam. Der Einkauf im Supermarkt wurde zum Highlight des Tages. Die soziale Komponente des Essen erstarkte, Familien und Haushalte genossen das Essen in Gemeinschaft. Snacks wurden wieder zu Mahlzeiten, um dem Alltag eine gewisse Struktur und Ordnung zu verleihen. Das Mittagessen etablierte sich erneut zur zentralen Mahlzeit des Tages.

Diese Renaissance des Kochens und Selbermachens drückte sich auch in dem erstarkten Food-Trend nach dem Do-it-yourself-Prinzip (DIY) aus. Die neu gewonnene Freizeit weckte bei immer mehr Menschen das Interesse dafür, Sauerkraut selbst einzulegen, Obst zu Marmeladen zu verarbeiten, Gemüse einzumachen oder Brot selbst zu backen. Neben Desinfektionsmitteln wurden Brotmischungen am stärksten nachgefragt, der Online-Verkauf von Brotbackautomaten boomte. War DIY bis zur Industrialisierung notgedrungen gelebter Alltag, erlebte es nun ein Comeback – als Freude an einer handwerklichen Tätigkeit in einer Zeit, in der man sich von Zoom-Meeting zu Slack-Call und E-Mail-Posteingang klickte. Schon vor der Krise stellte das Selbermachen einen angenehmen Ausgleich zu einem stressigen und eintönig gewordenen Arbeitsalltag dar. Die Krise intensivierte diese positiven DIY-Emotionen – weil sie mit einer Art Gelingensglück verbunden sind, das uns guttut.

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Dies ist ein Auszug aus der Studie „Die Welt nach Corona“ des Zukunftsinstituts, im Rahmen welcher ich den Lebensbereich Ernährung behandelt und im Kapitel „Revolution der Esskultur“ beschrieben habe.

Das Thema war auch Gegenstand meines aktuellen Youtube-Videos, in welchem ich nicht nur auf die Auswirkungen von Corona auf die privaten Haushalte, sondern auch den Einzelhandel, die Gastronomie und unser Ernährungssystem insgesamt geschaut habe.

Wie schätzt Ihr die Entwicklungen ein? Ich freue mich auf euer Feedback!